Mehr über den
Berliner Maler Sigurd Kuschnerus
finden Sie auf seiner Home-Page
unter: www.kuschnerus.com

 

Eine Florentinische
Bildgeschichte

 


Sehr eindrucksvoll
schildert der Künstler hier für
uns die Entstehung
seines Florenzbildes
.

FLORENZ VON NORDEN

An einem kühlen, grauen Junimorgen des Jahres 1977 ging ich mit Barbara vom Podere »Il Vivo«, in der Nähe von Borgo San Lorenzo, die Abkürzung über die Eisenbahnbrücke zur nächsten Bushaltestelle. Wir waren zum ersten Mal auf dem Weg nach Florenz. Während der langen Fahrt durch viele kleine Dörfer verzog sich das Morgengrauen, und als der Bus von der letzten Hügelkette vor der Stadt die kurvenreiche Straße hinabfuhr, lag Florenz, umgeben von einer tausend Jahre alten Kulturlandschaft, in klarer Luft bei strahlendem Sonnenschein vor uns.

 



Das einzige brauchbare Foto bei langsamer Busfahr

Im Bruchteil einer Sekunde sah ich das Ganze als fertiges Bild vor mir: Auf einer leicht grünlich-graublauen Imprimitur eine klare Konturzeichnung in Sepia mit einer etwas effektvollen Weißhöhung, die die Häuser, Hügel und Bäume in einer überwirklichen Klarheit und Plastizität in das Licht und den Raum stellte, an Farbe nur etwas Neapelgelb, Terra di Siena und Veroneser Grüne Erde. Als erstes war mir die alles beherrschende Kuppel des Domes aufgefallen - sie schien genau in der Mitte des Tales zu liegen. Als nächstes eine gerade Linie aus Häusern und Dächern, die in Verlängerung einer Allee von weit außerhalb, durch die Stadt, direkt auf die Kuppel hinführte. Ich dachte noch, das wird die Straße sein, auf der wir in die Stadt hineinfahren, da war der Bus schon eine Kurve weiter.

       

Mein einziger Gedanke war jetzt: Wie komme ich zu meinen Vorstudien für dieses Bild? Zeichnen dürfte von dieser Stelle aus, wegen des wahnsinnigen Autoverkehrs, fast un­möglich sein, also: Fotos. Spontan wollte ich am nächsten Haltepunkt aussteigen und zu dieser Kurve zurücklaufen; das mußte ich aufgeben, denn der Bus hielt erst wieder zwanzig Minuten später, mitten in der Stadt vor dem Hauptbahnhof. Ich tröstete mich mit dem Gedanken an die Rückfahrt nachmittags und damit, daß wir ja noch viele Tage hier wären und noch öfter mit dem Bus nach Florenz fahren würden und ich somit auch viele Aufnahmen aus unterschiedlichen Blickwinkeln bekäme, was für meinen Bildaufbau im fernen Berlin nur günstig sein würde. Am Nachmittag hatte ich noch ein paar Aufnahmen für die Rückfahrt übrig. Barbara überließ mir großmütig den Fensterplatz, und ich machte mit großer Begeisterung Fotos von Florenz im Nachmittagsdunst, aus allen möglichen Kurven. Den falschen, wie ich nach jeder Aufnahme bemerken mußte, denn bei der Rückfahrt aus einer fremden Stadt sieht alles immer ein bißchen anders aus als auf dem Hinweg. Als der Film voll war, kamen wir durch die richtige Kurve.



"Florenz von Norden" 1977, Aquarell, 50 x 70 cm

 
 


Hier können
Sie mehr über "La Bella",
die Wiege der
italienischen Renaissance
erfahren



FLORENZ
ein Schauplatz der Geschichte

 

 

 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 



"Florenz von Norden", 1992, Tempera und Harzöl-Lasur auf Leinwand, 120 x 175 cm

 

 


 

 

Am nächsten Florenztag war zwar das Wetter vielversprechend, aber an unserer Bushaltestelle hing ein Schild »sciopero«, was da heißt »Streik«. Wir fuhren per Anhalter im offenen Jeep nach Florenz, und ich freute mich über die verbesserten Bedingungen für mein Foto. Wie sich kurz vor der Stadt herausstellte, waren unsere freundlichen Mitnehmer einen anderen, selbstverständlich viel kürzeren, Weg als der Bus gefahren und brachten uns auch direkt bis zur Piazza Europa im Zentrum - mille grazie. Zurück fuhren wir mit der Bahn, naturgemäß durch völlig andere Kurven.

Noch zwei- oder dreimal kamen wir mit dem Bus nach Florenz. Doch die Bedingungen waren nie die gleichen wie bei der ersten Fahrt: Film vergessen, schlechtes Wetter, ungünstiger Platz und der Bus rappelvoll. Bei der buchstäblichen letzten Fahrt, zurück aus Florenz, zwar sonnig aber die Luft dunstig trüb (inzwischen wußte ich auch annähernd, welche der 97 Kurven meine war), erhob sich plötzlich ein aufgeregtes Geschrei im Bus. Das war nichts besonderes, schließlich waren wir in Italien, wo es immer etwas temperamentvoller zugeht als bei uns. Das Besondere war nur, daß einige Mitreisende auf mich zeigten, als sich der Fahrer umdrehte. Ich verstand nichts, fühlte mich auch nicht schuldig, und bevor mir noch richtig mulmig werden konnte, ob des vermeintlich aufkeimenden Volkszornes, nickte der Busfahrer, grinste mich an und fuhr, immer zu mir gewandt und lächelnd, betont langsam und majestätisch durch die besagte Kurve. Offensichtlich kannte der Bus wie ein alter Gaul seinen Weg von alleine. Vor Überraschung hätte ich jetzt beinahe noch meinen »Goldenen Schuß« verpaßt. Als ich die Kamera absetzte, lachten alle und freuten sich, und ick war janz jerührt, nickte und lächelte dankbar zurück.

Diese letzte Aufnahme von Florenz stellte sich später als die einzig brauchbare heraus. Das Licht kam zwar genau von der entgegengesetzten Seite, wie an dem strahlenden Morgen, als ich die Stadt zum ersten Male sah. Aber ich fand sogar meine beobachtete Linie von der Allee durch das Häusermeer zum Dom in dem Foto, die übrigens auf keinem mir bekannten Stadtplan zu finden ist. Mit Hilfe dieses Dias, es zeigt Florenz ganz grau, im tiefsten Nachmittagssmog mit westlicher Beleuchtung, malte ich als erstes ein Aquarell mit klarer Luft und den veränderten morgendlichen Lichtverhätnissen. Als ich einige Jahre später die Zeit fand, das großformatige Ölbild zu malen, hatte ich nur das kleine Dia, das Aquarell und meine genaue Erinnerung an den Aufbau des Bildes, wie ich ihn beim ersten Anblick von Florenz gesehen habe. So eine Bildidee bleibt mir viele Jahre unverändert frisch und deutlich im Gedächtnis. Sie verblaßt erst, wenn ich das Bild male oder fatalerweise auch dann, wenn ich von dem noch ungemalten Bild zu oft erzähle. Einige Türme, Kuppeln und Kirchen, von denen ich im Foto nur den Hauch einer Andeutung fand, konnte ich mit Hilfe eines Stadtplanes und Abbildungen aus Büchern ermitteln und ins Bild setzten. Es ist also ein Konglomerat aus vielen Elementen, und ausgerechnet die fotografische Genauigkeit ist in diesem Bilde die reine Fiktion. Mit Sicherheit sieht die »Realität« vor Ort in einigen Punkten völlig anders aus.

Johannes Grützke beschreibt in einer Tagebuchnotiz ein Bildprojekt lapidar: »... soll ganz realistisch aussehen, muß demzufolge gut erfunden sein.«

Foto von Bernd Reinecke, 1985

Als ich mit meinem Bild fast fertig war, bekam ich unverhofft von Bernd Reineke ein Foto, das ziemlich genau diesen Blick auf Florenz zeigt, wie ich ihn vom Bus aus gesehen hatte. Nur der Feigenbaum, der seine linken Bildhälfte füllt, befindet sich bei mir am rechten unteren Bildrand. Das kommt durch den zwei Meter höheren und zehn Meter weiter in der Kurve befindlichen Blickpunkt, aus dem fahrenden Bus. Er hingegen war mit dem Auto unterwegs, als er dieses Motiv sah, hielt an und ging die Straße zurück, um seine Aufnahme zu machen. Weiter als bis zu diesem Punkt, von dem aus der Feigenbaum sich links im Bild befindet, kam er zu Fuß nicht, da auch ihm sein Leben lieb und das Stehen mitten in einer Kurve riskant ist.

Es gibt Momente, da ist die Realität unerbittlich, da wird ein Ereignis nur dann zu einem Bild, wenn eine sehr große Menge genau aufeinander abgestimmter Faktoren zusammenkommt. In seinem Essay über die Laokoon-Skulpturengruppe im vatikanischen Museum beschreibt Lessing sehr ausführlich den »fruchtbaren Augenblick« eines Kunstwerkes. Im Falle meines Florenz-Bildes war es dieser eine für mich unwiederholbare Moment an jenem strahlenden Junimorgen, in genau dieser Höhe, an genau diesem Punkt der Landschaft zu sitzen. Dieser Moment war zwar im Nu vorüber, und daß er unwiederholbar blieb, stellte sich erst nach einigen Mühen heraus. Er ließ sich aber später im Bild rekonstruieren. Nicht zuletzt dank des beherzten Einsatzes meiner freundlichen und hilfsbereiten unbekannten italienischen Mitreisenden.

Sigurd Kuschnerus

 
 

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